In einem Rundgang durch die Ausstellung „Ein Garten der sich einmal täglich um sich selber dreht“ lässt sich gedanklich die ganze Welt bereisen. Eine Welt, die von Polaritäten gekennzeichnet ist, in der zwischen Norden und Süden, Westen und Osten, Oben und Unten, Dunkel und Hell unterschieden wird und die doch als Kugel in ständiger Bewegung begriffen ist. Als solche kann sie beliebig gedreht und gewendet werden, auf den Kopf gestellt, sodass sich scheinbar festgefügte Gegensätze auflösen, Pol und Antipol wechselseitig ineinanderfließen. Je nach Perspektive, nach Blickwinkel, aus welchem die Welt betrachtet wird, verändert sich auch die Lesart und ergibt manchmal von der einen, manchmal von der anderen Seite aus gesehen Sinn.
Der 1962 in St. Gallen geborene Künstler Thomas Stricker ist weniger an universellen Antworten interessiert, sind seine Werke doch Untersuchungen skulpturaler Fragestellungen, die den Künstler seit Beginn seines Schaffens umtreiben. Dem Ruf der inneren Stimme folgend reiste er 1994 in die äußere Mongolei, um in der Ferne die innere Mongolei zu finden, sich in der Distanz dem eigenen Standpunkt anzunähern. Die daraus resultierenden „108 Fragen an die Nomadin mit dem Gewehr“ stehen nun im Raum, fangen vagabundierende Gedanken ein und bilden wiederum eine Heimat für flüchtige Momente.
Stricker vereint zwei Künstler in sich, die sichtbare und unsichtbare Skulpturen erschaffen und je nach Frage, mal der Eine, mal der Andere Antworten gibt. Basierend auf Beuys‘ Erweiterung des Kunstbegriffs in den Bereich der sozialen Plastik widmet sich Strickers Ausstellung seinen sozial engagierten Skulpturen, die als amorphe, gestaltlose Werke Prozesse umschreiben.
Es sind Energieflüsse, Geldflüsse, die von Stricker umgeleitet werden, Orte miteinander verbinden und Distanzen überwinden. In „Das Land fliesst wirklich“ (2001), entworfen für das Kanal- und Wasserbauamt der Stadt Düsseldorf, erbaute Stricker einen zweiteiligen Brunnen, der ausgehend von der symbolischen Brunnenstube vor Ort scheinbar quer durch die Erdkugel bis nach Kenia gebohrt wurde. Dort hat der Brunnen einen ganz funktionalen Nutzen, ermöglicht 160 Familien in der Gemeinde Kivaa Zugang zu sauberem Trinkwasser und fügt sich über Grenzen hinweg zu einer globalen Skulptur.
Zwischen ephemerer und dauerhafter Erscheinung changieren auch seine sog. „Agrarstatistischen Felder“ (2012/21). Grafiken, Diagramme und Kurven veranschaulichen Abhängigkeiten zwischen Nahrung, Energie und Ökologie. In die Landschaft eingeschrieben werden sie an den Ort des Geschehens zurückgeführt und geben je nach Perspektive neue Einblicke in überzeitliche Entwicklungen preis.
Strickers Lieblingsprojekt rund um den „Primary School Garden“ im Township Kalkfeld in Namibia bildet das Herz der Ausstellung. 2007 wandte sich die Schulleiterin mit einem Anliegen an den Künstler, stand doch die praktische und theoretische Vermittlung von Agrikultur auf dem Lehrplan. Ergebnis ist ein über den Schulgarten bis ins Heute wucherndes Projekt, das kommunikative Netzwerke knüpft, in dem das künstlerische Moment zunächst zweitrangig war, aber in der Wechselwirkung von Pädagogik, sozialem und künstlerischem Engagement immer größere Bedeutung gewinnt.
Ein ständiger Kreislauf des Werdens, der Blüte, des Vergehens und neuerlichen Werdens, der sich ebenfalls im Kompost-Komplex in Mexiko City manifestiert. Auf Einladung entstand 2010 ein ganzheitliches Entsorgungssystem, das sich innerhalb des Stadtteils Tlatelolco zugleich zu einem sozialen Treffpunkt entwickelte. Aus dem Dunkel gehobene Prozesse von Vergänglichkeit, der Rückführung organischer Stoffe in den Kreislauf der Natur, fördern ökologisch-soziale Verflechtungen zutage.
Stricker ist sich seiner scheinbar zwiespältigen Rolle zwischen Künstler und Entwicklungshelfer bewusst, weiß diese Unwuchten in sein Werk einzubeziehen. Nie drängt er fremden Orten seine Ideen auf, vielmehr hört er zu, beobachtet und nimmt sich Aufgaben an, die genuin an ihn herangetragen werden. Jeder neue Ort verlangt dabei nach eigenen künstlerischen Mitteln in Reaktion auf eine sich ständig verändernde Ausgangslage. Mit dem taktilen Gespür des Künstlers wird eine ganz praktische Arbeit auf Augenhöhe angestrebt, findet ein vorsichtiges Nähern, ein assoziatives Tasten, in seiner Offenheit eine Form und schafft eine Basis des Vertrauens. In letztlich gegenseitiger Entwicklung werden die Bewohner*innen zu Mitproduzent*innen im Schaffensprozess.
Nur bei regelmäßiger Pflege wächst die zarte Pflanze der Zusammenarbeit über die vorgegebenen Strukturen hinaus. Stricker sät aus und seine Projekte tragen nachhaltig Früchte, wenn im Township Jahre später überall kleine Gärten zu finden sind. Derartige Projekte sind Werke, die sich dem Ewigkeitsanspruch von Kunst entziehen und doch gerade in ihrer nicht festgelegten Laufzeit an Dauerhaftigkeit gewinnen.
Stricker tritt aus dem Atelier an die Menschen heran, erschafft mit ihnen gemeinsam neue Strukturen, führt kollaborativ Ideen fort. Seine Kunst ist Werkstatt, ist eng am Leben verortet und von wechselseitigem Austausch geprägt. Als Zeichen des stillen Protests entwickeln seine Projekte erst in ihrer Konstruktivität politische Sprengkraft. So hinterlässt er Spuren in den Köpfen der Menschen, wird zum Brückenbauer in einer bewegten Zeit, zum Überwinder gesellschaftlicher Bruchstellen.
Utopien, Träume nehmen Gestalt an, besonders anschaulich an der skulptural ausgeprägten Vision von einem Ritt am Strand Australiens ersichtlich. „NOTALP“ wird mit „The trouble of dreams“ (2003) zu einem Residuum verwirklichter Träume, einer Negativform des Denkens, in der intuitive Kräfte wirken.
„Ein Garten der sich einmal täglich um sich selber dreht“ macht Unsichtbares sichtbar. Die Ausstellung erschöpft sich dabei nicht als Sockel, sondern lässt aus der Vielzahl unsichtbarer Skulpturen ein neues Werk entstehen, wird selbst zur Skulptur. Unter dem Brennglas aktueller Entwicklungen verdichten sich die skulpturalen Forschungsreisen, wird das Kondensat zu einer von „108 skulpturalen Fragen“.
Die Welt als um sich selbst rotierender Garten, in dem Neues aus Altem erwachsen kann, in dem Gegensätzliches zu gemeinsamen Wurzeln sich verbindet und nachhaltig Früchte trägt. Visionen ergießen sich in Möglichkeitsräume, nehmen Gestalt an und bilden begehbare Traumarchitekturen. Die Ausstellung hinterlässt Fragen, wo sonst Antworten sind, leitet zum kritischen Blick auf scheinbar Unveränderliches an, zum fluiden Denken in einer bewegten Welt. Es sind Fragen, die wie Steine ins Rollen geraten, zu einem Erdrutsch sich ausweiten und gleichermaßen am Ende wie am Beginn der Reise stehen können. Die gezeigten Skulpturen verstellen hierbei in ihrer Durchlässigkeit nicht den Blick in die Welt, sondern geben ihn frei.
Eine weltumspannende Ausstellung nirgendwo besser verortet als im Weltkunstzimmer, das sich schon immer dem interkulturellen Austausch verpflichtet sah. Hat sich das interdisziplinäre Kulturzentrum der Hans Peter Zimmer Stiftung in Düsseldorf mit seinem vielseitigen Programm doch der Auslotung von Wechselwirkungen zwischen Kunst und Gesellschaft verschrieben. Als offene Begegnungsstätte bietet es eine Plattform für Kunst, Diskurs, Experiment und nun im Besonderen für skulpturale Fragen.