Internationaler Seegerichtshof, Hamburg

Martin Seidel, 2007

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Im Rahmen der künstlerischen Gestaltung des Neubaus des Internationalen Seegerichtshofs (International Tribunal for the Law of the Sea) wurden im November 1998 Matt Mullican sowie Heimo Zobernig direkt beauftragt. Für den nördlichen Innenhof war ein auf fünf bevorzugt jüngere, dabei renommierte und bereits auch Kunst-am-Bau-erfahrene Künstler beschränkter Wettbewerb ausgeschrieben, aus dem der 1962 in St. Gallen geborene, in Düsseldorf lebende Thomas Stricker als Sieger hervorging.
Thomas Stricker ist ein Bildhauer, der in seinem Kunst- und Skulpturenverständnis weit ausholt. So hat er in Hamburg an der Außenalster eine »Meteoritenwerkstatt« eingerichtet, in der er innerhalb von zwei Monaten mit Hilfe der Parkbesucher einen 2,50 Meter hohen Meteoriten aus Beton und Blattpalladium fertigte. Im Rahmen der Skulptur Biennale Münsterland 2003 hat er gemeinsam mit den ansässigen Bauern ein riesiges Rapsfeld in Form eines Kreuzes angelegt. Ging es dabei um das Entstehen von Skulpturen unter Mitwirkung von Menschen, die von Betrachtern zu Handelnden werden und einen Bewusstseinsprozess vollziehen, so ist auch die zwischen die Gebäudeflügel in den nördlichen Innenhof des Seegerichtshofs platzierte Bronzeskulptur kein statisches Objekt.

Das 2001 fertiggestellte Werk, dessen Entstehung übrigens in einer Ausstellung dokumentiert und per Webcam im Kunstmuseum St. Gallen live verfolgt werden konnte, ist ein vieldeutiges Gebilde. Dem Aussehen nach handelt es sich um eine jener Bronzekunstkugeln, wie man sie von vielen Künstlern her kennt. Stricker sucht aber nicht nur die formale Perfektion und Symbolik der Kugel. Er verknüpft mit der 2,50 Meter hohen Form zahlreiche Gedanken. So sieht das Ganze aus der Ferne mit der türkis schimmernden Patina ein wenig nach der Erde aus, mit seinen drei Bullaugen vor allem aber nach einer Taucherkugel. Die wulstig schlingernde Oberfläche erinnert, auch das ist beabsichtigt, an eine Gehirnkoralle. Denkt man an Strickers äußerlich ähnliche Meteoriten-Plastik, sind den Assoziationsmöglichkeiten kaum mehr Grenzen gesetzt.
Stricker forciert die Vielschichtigkeit, indem er im Innern auf der Glaswand der die Gebäudeteile verbindenden Brücke mit Folien Sätze angebracht hat, die das weite Feld noch weiter machen: »teil im teil/und doch eins/ein ganz schön langer atem/im bauch des wals/verflüssigte gedanken/wirklich anders/die schwerkraft überwunden/in irgendeiner form«.

Stricker lässt die vom Weg aus über einen Steg erreichbare Kugel sowohl autonome Skulptur sein, die hier ist, aber auch anderswo sein könnte. Gleichzeitig aber ist sie eine speziell für diesen Ort am Seegerichtshof geschaffene und auf ihn abgestimmte begehbare Installation. Schon der Titel »mehr als siebenzehntel«, der den Anteil des Wassers an der Erdoberfläche benennt, stellt einen direkten Bezug zum Seegerichtshof her und konfrontiert die Richter mit dem, worüber sie verhandeln: dem Meer.
Stricker erklärt sein Anliegen so: »Die (…) Skulptur, ein Versuch, das Meer ins Seegericht zu holen, das Meer zu Wort kommen lassen. Ein Experiment, dem kontinentalen Denken sein Gegenüber anzudocken. Die Pole der Existenz zusammenzubringen. Wasser und Luft vermischen. Unten und Oben vertauschen. Innen nach Aussen krempeln. Das Meer als gemeinsames Erbe der Menschheit hinterfragen, die Freiheit der Meere wörtlich nehmen. Eine Arbeit, die den Richtern in ihrer Arbeit helfen soll, ihre Verantwortung zu tragen. Mit grossgeschriebener visueller Präsenz das bloss Ästhetische verlassen. Eine skulpturale Lösung einer flüssigen Thematik.«

Strickers Bronzeskulptur ist alles: Konzept, Symbol und Ding, sowohl Gegenstand der Betrachtung als auch Ort, aus dem heraus die Dinge betrachtet werden können. Sie ist Erde, gelandeter Himmelskörper, Tiefseetauchkugel, im Innern mit Sand gefüllte Koralle oder eine »angedockte Zelle, die den gesamten Innenhof zum Meeresboden erklärt« (Stricker). Als »Arbeits-/Denk-Raum« soll sie den Richtern dienen und ihnen helfen, »die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten« und »eine intuitive Kommunikation mit dem Meer aufzubauen und in die Tiefen der Meere hinabzutauchen«.
Die Assoziationsweite ufert jedoch nicht ins Unverbindliche und Beliebige aus. Die Kugel bewältigt die angespielten Themen und den Wechsel der Perspektiven ebenso intelligent wie sinnlich. Dabei verbindet Thomas Stricker eine traditionelle Bildgebung mit einer konventionellen Materialanmutung zu einer Plastik, die mit sinnlichen Reizen nicht geizt und in spielerischer Naivität selbst kindliche Sehnsüchte nach Weltraum- oder Meeresabenteuern erlaubt.