Himmel oben, Himmel unten

Gregor Jansen, 2016

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U-Bahnhof Benratherstraße

Als Bildhauer arbeitet Stricker mit Form, Material und Raum, gleichwohl sein spezifisches Moment der Prozess und eine konzeptuelle Herausformung und Durchdringung seiner Werkformen ist. Speziell im Öffentlichen bewegt er Dinge für und mit Menschen, als soziale Skulpturen, ob mit Rapsfeldern, Brunnen und Gärten in Afrika oder Müll in Mexiko. Mit seiner Meteoritenwerkstatt für „Aussendienst“ 2000 in Hamburg ging er über die gängigen Schemata von drop sculpture, site-specific sculpture und der Skepsis an der Bedeutung letzterer hinaus. Es entstand eine Art Observatorium, das auf Konstruktionen der Geodätischen Kuppeln des amerikanischen Ingenieurs Richard Buckminster Fuller zurückging: eine künstliche Welt mit ihrem eigenen Kosmos. Stricker nutzte bildhauerische Mittel, um ein Naturereignis zu simulieren, das nicht direkt von dieser Welt, jedoch seine Existenz aus dem Weltall auch in unsere fiel. Meteoriten erscheinen wie ein Zeitpfeil, der aus der Vergangenheit des sterneglitzernden Firmaments in unsere Gegenwart vorstößt, gleichsam von einer Realitätsebene in die andere beschleunigt wird, um auf der Erde gelandet, wieder auf das Zeitmaß unseres Planeten reduziert zu werden.

Mit seinem Wettbewerbskonzept für die Wehrhahnlinie schloss er daran an: Die Weite des Universums mit seiner Ruhe und Schwerelosigkeit in der Enge und Hektik eines Nicht-Ortes und bisweilen auch Angstraumes einer U-Bahnstation einzubetten. Himmel oben, Himmel unten… Mit diesen Grundgedanken gingen die Architekten sehr präzise in die Verhandlungen und Planungen mit den Ingenieuren. Später, als die Rohbaugeometrien längst standen, gegen 2007, überarbeitete er die Grundkonzeption völlig und „löste das Erdreich auf“ und aus dem Negativraum entstand ein positives Raumschiff. Ein Prozess, dessen Ergebnis beeindruckt, visuell und konzeptionell. Der Raum dehnt sich nach unten hin aus, wird breiter, und aus den zwei engen Schnitten zur Bahntrasse entwickelt sich eine Kommandobrücke mit schrägen Wänden und großen Glasflächen. Dies ermöglicht weite Blicke in alle Richtungen. Die kompakte Materialität des Erdreichs, in welches die Station gebettet ist, ist gedanklich aufgelöst und von Stricker als Weltall definiert. Damit dieser Eindruck entsteht, wurde die Innenarchitektur folgerichtig nach der Konzeption Strickers entwickelt und realisiert; in außerordentlich guter Zusammenarbeit mit den netzwerkarchitekten, wie der Künstler selber betont.
Edelstahlplatten verkleiden die Wände und legen die Station in einen matten, silber-metallenen, futuristischen Schimmer. Wie Tropfen fallen die in die Platten geprägten Punkte von den Wänden, bilden eine Matrix oder eine Schrift wie für Blinde, oder in den Leerstellen meinen wir verschlüsselte Buchstaben zu erkennen. Sie erinnern an den rieselnden, grün leuchtenden Code aus dem Film Matrix oder das nietenbewehrt technoide Innere von Raumschiffen. Der Boden wurde nur an diesem Bahnhof in schwarzem Betonwerkstein gehalten, um die Fensterwirkung der sechs Medienwände zu verstärken und in den Rohbau eingelassen, damit sie bündig in die Matrix eingesetzt werden konnten. Diese Medienwände bieten den Blick ins Universum mittels faszinierender 3D-animierter Videoszenen. Sie eröffnen dem Passanten eine völlig ungewohnte Erfahrung mit der real anmutenden Reise ins Weltall. In Zusammenarbeit mit Computerspezialisten von 235Media in Köln wurde der Weltraum mit Bildern und Texturen der ESA und NASA im digitalen 3D-Raum nachgebaut und virtuelle Flugbahnen durch diese Räume konzipiert. Mittels eines sechsköpfigen Kamerakopfes, gestaltet in Proportion der architektonischen Geometrie der U-Bahn-Verteilerebene, wurden diese Weltraumreisen herausgerendert und zeigen nun zusammenhängende Ausblicke aus den sechs Videofenstern der Kommandobrücke eines unterirdischen Raumschiffs. Von der Sonne als gleißendem Lichtball ausgehend gleiten wir durch eine greifbare Simulation des Weltalls, passieren Planeten und Monde unseres Sonnensystems, werden in faszinierendem Detailreichtum der Planeten Krater und Hügel gewahr, bis wir am Rand unseres Sonnensystems und weiter zu anderen Galaxien und fernen Sternennebeln, durch ein schwarzes Loch zurück zu unserer Sonne angelangt sind – und der Loop erneut beginnt. Die Reise durch Zeit und Raum ist beeindruckend synchron. Folgt man den Planeten im Bahnhof über die Bildschirme, „fliegen“ wir virtuell an ihnen vorbei, bewegen uns stehend im Raumschiff, als Beobachter des Unmöglichen. Und vergessen für einen Moment, dass wir uns unterhalb der Erdoberfläche befinden. Es ist somit über den künstlerischen Aspekt der Himmelsbeobachtung ein soziologisches und philosophisches Moment spürbar. Der Mensch kommt für einen kurzen Moment, für ein Inne-Halten, ein Warten und Harren zum Staunen über das Visionäre, das Imaginäre und Unmögliche. Er ist als Passant und „Reisender“ auf dem Weg zu einem neuen Ort, weilt alleine oder mit anderen an einem Un-Ort, den es zu überwinden und zu verlassen gilt. Metaphorisch gesprochen geht es um neue Blickwinkel und um Phantasie.

Die Kunst bietet genau jenen Ort, an dem neue Seh- und Welt-Erfahrungen möglich werden. Sie ist ein Medium, dessen Mittel und Möglichkeiten zu immer neuen Dimensionen vorstoßen. Dies wird hier schlagartig deutlich. Der Passant befindet sich in einem geschützten Raum, ohne Werbung und ödem urbanem Design. Er steht in einer Frei-Zone der Kunst, die es ermöglicht, über die Problemstellungen kultureller Identitäten an die Erhabenheit der eigenen Sinnlichkeit und subjektiv-kollektiven Sinnfrage vorzudringen. Er ist ein Halt Suchender an einer profanen Halte-Stelle.
Thomas Stricker offeriert einen Halt, der einem den Boden des Realen entzieht, und in die traumhaften Spekulationen des Imaginären entführt. Die Materialwahl und Ausformung, die Transformierung des „unendlichen“ Weltraums als Weitung und Bewegung des begrenzten Raumes unter der Erde, die funktionale Utopie des Nicht-Ortes, all das ist unmittelbar erfahrbar. Ein Abheben, ein Schweben und Fliegen beim Warten auf die nächste Bahn, die Relativität von Zeit und Raum, die Frage nach der Bewegung von Dingen und einem selbst in Raum, und Zeit, von der Bewegung und Rotation der Erde zum Finden eines eigenen Standortes, all dies tritt in dieser Raumsituation kurz ins Bewusstsein. „Floating in Space“ unter der Erde. Nichts fasziniert uns Menschen mehr als den Blick in mikroskopisch kleine Dimensionen oder in makroskopisch unendliche Weiten. Beim Wohlgefühl des Blicks in Raum und Zeit auf Marskrater, die Saturnmonde oder den Asteroidengürtel werden sicherlich einige der täglich 53.000 Passanten die nächste Bahn eine Ebene tiefer verpassen.

Zur Beobachtung von Sonne, Mond und Himmel, antwortete der antike Philosoph Diogenes Laertius auf die Frage, warum er auf der Welt sei. Diese Aussage ist eine der schönsten Beschreibungen der Situation, in der wir uns befinden und stand dem Konzept der Meteoritenwerkstatt und dem U-Bahnhof Benrather Straße voran. Die interstellare Konstellation kann zwar physikalisch beschrieben, erklärt oder begründet werden kann sie dennoch nicht. Und genau wie Power of Ten, a Film Dealing with Relative Size of Things in the Universe and the Effect of Adding Another Zero (1977) vom Ehepaar Eames oder Scale Model of the Solar System (1983) von Chris Burden, scheinen die Utopien der Größenvorstellungen, Phantasien der Raumerstreckung wie im Genre Science Fiction einer verloren geglaubten Epoche anzugehören. Bei Thomas Stricker fußen die Bilder jedoch auf dem Realen, auf den Bildern von Teleskopen, Satelliten und Raum-Sonden. Alle Dinge im Lauf der Zeit und als Wesenheiten auf der Erde sind einem Sinnzwang nicht unterworfen, sondern ganz einfach da. Erklärungen sind abstrakte, logische Leistungen unseres beschränkten Aufnahmefeldes, Konstruktionen unseres Gehirns, sobald wir versuchen, die Zusammenhänge und Entitäten unserer Welt als rationale Wahrheiten zu erfassen. Die berühmte Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde, wie Buckminster Fuller festhielt, fehlt somit wirklich nicht, sondern wir sind Teil der Anleitung, sind Bestandteil des mit unendlicher Sorgfalt ausgestatteten Schiffs. Die Erweiterung der Bedienungsanleitung als Teil des Gesamtplans liegt exakt neben der Sinnsuche und abstrakten Logik des menschlichen Geistes – der im Gegensatz zu Gesteinsbrocken bekanntlich nicht vom Himmel fiel. Wo ist oben und wo unten?