Die Meteoritenwerkstatt

Gregor Jansen, 2001

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Plastik im Freien. Thomas Stricker ist Bildhauer und arbeitet mit Form, Material und Raum. Dennoch ist sein spezifisches Moment der Prozeß und eine konzeptuelle Herausformung und Durchdringung seiner Werkformen. Mit seiner Meteoritenwerkstatt für „Aussendienst“ in Hamburg geht er über die gängigen Schemata von drop sculpture, site-specific sculpture und der gegenwärtigen Skepsis an der Bedeutung letzterer hinaus und greift im Bewußtsein klassischer Bildhauerei in die aktuelle Problematik von Kunst in öffentlichen Räumen ein. Schon der abseits der normalen Kunstrouten gewählte Ort seiner Arbeit im Alsterpark am Havestehuderweg, Höhe Milchstraße ist historisch interessant. Er liegt „zwar ein bißchen weit draußen“, aber themenrelevant im Zentrum: Werner Haftmann organisierte dort 1953 die Ausstellung „Plastik im Freien“ mit 50 zeitgenössischen Werken, die im Zusammenhang mit „Aussendienst“ eine Restaurierung und erneute Betrachtung erfahren sollte.

The Truman Show – Hamburgs Realität. Thomas Stricker begann dort am 31. Mai, einen Monat vor der Eröffnung von „Aussendienst“, sein offenes Atelier zu errichten, ein kuppelartiges Zelt und gleichzeitig die erste Skulptur, in der die zweite und dritte Skulptur entstanden. Aber auch eine Art Observatorium, das auf Konstruktionen der Geodätischen Kuppeln wie den Geodom des amerikanischen Ingenieurs und Designers Richard Buckminster Fuller zurückgeht: eine künstliche Welt mit ihrem eigenen Kosmos – wie im Kinofilm „The Truman Show“. Eine der schönsten Szenen darin ist die, wo der arme Truman mit der Realität konfrontiert wird. Ein Studioscheinwerfer zerschellt direkt und lebensgefährlich vor seinen Füßen, und sein Blick in den (Studio-)Himmel zeigt nichts außer dem gewohnten Blau. In Strickers Kuppelzelt an der Außenalster war das Blau des Himmels nicht zu sehen, doch es war ebenso öffentlich und bezog sich auf das Fern-Sehen, aber es ging um das Nah-sehen eines skulpturalen Prozesses und eines entstehenden Meteoriten.
Meteoriten fallen vom Himmel und wer sie nachts am Himmel sieht, hat einen Wunsch frei. Nur wenige Meteoriten, die beim Eintritt in die Atmosphäre in rund 100 km Höhe am nächtlichen Himmel glühen, erreichen die Erdoberfläche. Die meisten sind so groß wie Kieselsteine und lösen sich nach kurzem Flug auf, hingegen zu große Meteoriten explodieren. Der größte je gefundene wog 60 Tonnen und ist nahe Grootfontein in Namibia niedergegangen. Thomas Stricker hat einen Meteoriten gebaut, der zwar nicht so schwer, aber ähnliche Größe besitzt. Er nutzt bildhauerische Mittel, um ein Naturereignis zu simulieren, das nicht direkt von dieser Welt ist, jedoch seine Existenz aus dem Weltall auch in unsere fällt. Meteoriten erscheinen wie ein Zeitpfeil, der aus der Vergangenheit des sterneglitzernden Firmaments in unsere Gegenwart vorstößt, gleichsam von einer Realitätsebene in die andere beschleunigt wird, um auf der Erde gelandet, wieder auf das Zeitmaß unseres Planeten reduziert zu werden.
Der Arbeitsprozeß in der Meteoritenwerksatt von Thomas Stricker zeigte skulpturale und kommunikative Formbildungsprozesse. In dem temporären Zeltbau gewährte Stricker Einlaß und Einblick in sein mobiles Atelier. Hier bildete er den Versuch aus, wie die Schwerkraft und die Proportion, die Natur und die Kunst, das geformte Formlose und Skulptur im öffentlichen Raum wechselseitig wirksam werden. Obwohl im Sinne einer „drop sculpture“ erscheint ihm die Idee von ortsspezifischer Skulptur genauso zweckvoll, die ihn in der wörtlichen Beanspruchung von „Aussendienst“ Stricker zum öffentlichen Werkstattleiter machte.

Verortete Basisarbeit. In der ersten Skulptur der Werkstatt, Stricker strapaziert nicht den wissenschaftlichen Begriff des Labors, baute er eine riesige Styropurkugel aus zwei Formhälften (die zweite Skulpur) mit dem Negativ des Meteoriten. Die Negativform entstand mittels des Schwenkgußverfahrens und dem im Fluß erstarrten Gips. Hierauf wurde wie im Tunnelbau die positive Form im Betonspritzguß aufgebracht. Befreit von seinen Schalen aus Gips und Styropur wurde die Betonform der dritten und eigentlichen Skulptur auf die Erde „heruntergeholt“ und mit Paladium überzogen, danach das Zelt abgebaut. Daß Thomas Stricker in der Werkstatt den Ort der Herstellung oder der Geburt des Meteoriten mit dem Einschlagsort zusammenfallen ließ, ist bedeutsam. Das Ausformen, Rollen, Verflüssigen, Zuschütten und Verfestigen, die Übergänge von Materialzuständen und skulpturalen Dimensionen, schlicht die gesamte Zeit der Entstehung, waren eine permanente öffentliche Formulierung. Die diskursive Stätte des Werks (synonym mit Werkstatt) stand als aus der symbolischen Vergangenheit des Objekts kommende, auf die Zukunft hin angelegte Position allen Besuchern offen, und formulierte subjektive Fragestellungen über ihre Gegenwart. Metaphorisch ist der fertige, spiegelglänzende Meteorit eine Reflexion unserer Wirklichkeit auf die Wahrnehmung von Utopien, die als ein Fremdkörper die zweite und dritte, aber vor allem die vierte Dimension in sich trägt. Und völlig real vor uns liegt. Wie vom Himmel gefallen. Absolut irreal und erstaunlicherweise der Aufklärung dienend ähnlich der Szene aus „The Truman Show“. Der Mythos als geschichtsbildender Prozess verankert den fragenden Bürger gleichsam als Sockel der jetzt autonom scheinenden Skulptur vor Ort. Der Mythos ist solide Basis und Sicherheit für die gefährdete Existenz der „drop sculpture“ in der Form eines Meteoriten, der sich fallend seinen Ort selbst sucht – Plastik im Freien (Fall).

Problemränder. Parallel ist die Beziehung zwischen dem Weltraum und dem Erdraum des Betrachters zu sehen. Oder zwischen dem Blick in den Himmel und den medialen Bildern von Superteleskopen oder Spektralanalysen. Die hiervon ausgehende Faszination fußt in einer körpererweiternden Raum- und Zeiterfahrung, in der Konfrontation mit dem Fremden und Unerklärlichen wie in einer Schweizer Baumkrone an der Heilpädagogischen Schule in Flawil. Dort liegt ein fremdartiges Objekt. Es scheint wie vom Himmel und in unser Blickfeld gefallen. Zum Tag der Totalen Sonnenfinsternis am 11. August 1999 installierte Thomas Stricker in seiner Schweizer Heimat den silbern glänzenden, formlos geformten Körper. Dort ruht er auf drei Tragstangen bis der Baum ihn selber trägt und verändert sich: mal metallisch funkelnd oder gleißend matt je nach Sonnenschein, mal von Blättern verdeckt oder frei sichtbar je nach Jahreszeit, mal Skulptur mit humorvollem Standort oder Meteorit als Sternschnuppe voller Wünsche und Träume je nach Betrachtungsstandpunkt. Diese Arbeit symbolisiert wechselnde, immer schlüssige Berührungspunkte für eine „vom Himmel gefallene“ Skulptur in einer Schule für behinderte Kinder, für einen Umgang mit dem Fremden im symbolreichen Baum (des Lebens).

Monument of Hamburg (frei nach Robert Smithson). Konstitutiver Bestandteil der Hamburger Meteoritenwerkstatt war die Beteiligung der Parkbesucher. Dies bedeutete zugleich die Besonderheit im Gesamtkontext von „Aussendienst“. Das Zusammenspielen und Zusammenfallen von skulpturalem Schaffensprozess, öffentlichem Werkstattcharakter und künstlerischer Blickwinkelveränderung war die Idee einer Skulptur im öffentlichen Raum. Wie ein Satellit dem Projekt vorgeschaltet, war die Verfolgung oder Beobachtung des Prozesses, die Diskussion mit den Passanten und die Öffentlichmachung der Verortung notwendig. Mit der Freilegung der Skulptur waren die Besucher der Werkstatt Augenzeugen und Teilhaber, letztlich Mitbesitzer einer öffentlichen, befreiten und hiermit „zweigeteilten“ Plastik im Freien. Das Formlose wurde in eine Form gebracht, die funktional bestimmt einen Zweck erreicht, der als plastische Ausbildung des hohlen Kerns eine Schalung verlangt. Dies ist skulptural und kommunikativ gedacht eindeutig, physikalisch schwierig und gleichwohl als gegebene und gesetzte Entität existent. Nichtgeformte Form in einem geschlossenem System – Entropie als formlos irriversibler Prozess. Perfektion auf physikalischer Ebene, auf etwas, das wenn es greifbar erscheint, schon eine andere Dimension, eine andere und nie autonome Ebene erreicht hat. Eine weitere Assoziation ist die eines Fremdkörpers, der in den Formungsprozessen des Alls und letztlich der Atmosphäre seinen Weg auf die Erde gefunden hat – wobei eben Atelier und Einschlagsort mit dem Standort der Bürger zusammenfallen. Thomas Stricker greift konkret und konzeptuell auf künstlerische Formfindungsprozesse im Verhältnis zur Natur zurück – unter Einbezug einer politischen Indienstnahme von Kunst im Aussen- oder öffentlichen Raum.
Das Internet als öffentliches Informations- und Kommunikationsnetz wurde während der Entstehung der Skulptur mit der täglichen Freischaltung eines Fotos vom Arbeitsprozeß genutzt (www.meteoritenwerkstatt.de). Über diese Plattform wurde das Projekt überregional öffentlich. Die Dokumentation war ein weiterer Sockel für die Hamburger Basis – umso deutlicher nach dem Werkstattabbau bis heute, aber relevant wird sie auch in Zukunft bleiben.

Logische Anleitungen. Zur Beobachtung von Sonne, Mond und Himmel, antwortete Diogenes Laertius auf die Frage, warum er auf der Welt sei. Diese Aussage ist eine der schönsten Beschreibungen der Situation, in der wir uns befinden und steht dem Konzept der Meteoritenwerkstatt Thomas Strickers voran. Die interstellare Konstellation kann zwar physikalisch beschrieben, erklärt oder begründet werden kann sie dennoch nicht. Und genau wie „Power of Ten, a Film Dealing with Relative Size of Things in the Universe and the Effect of Adding Another Zero“ (1977) vom Ehepaar Eames oder „Scale Model of the Solar System“ (1983) von Chris Burden, scheinen die Utopien der Größenvorstellungen, Phantasien der Raumerstreckung wie im Genre Science Fiction oder in Truman Show einer verloren geglaubten Epoche anzugehören. Alle Dinge im Lauf der Zeit und als Wesenheiten auf der Erde sind einem Sinnzwang nicht unterworfen, sondern ganz einfach da. Erklärungen sind abstrakte, logische Leistungen unseres beschränkten Aufnahmefeldes, Konstruktionen unseres Gehirns, sobald wir versuchen, die Zusammenhänge und Entitäten unserer Welt als rationale Wahrheiten zu erfassen. Die berühmte Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde, wie Buckminster Fuller festhielt, fehlt somit wirklich nicht, sondern wir sind Teil der Anleitung, sind Bestandteil des mit unendlicher Sorgfalt ausgestatteten Schiffs. Die Erweiterung der Bedienungsanleitung als Teil des Gesamtplans liegt exakt neben der Sinnsuche und abstrakten Logik des menschlichen Geistes – der im Gegensatz zu Steinsbrocken bekanntlich nicht vom Himmel fiel.

Brunnen. Von globalen Problemen und Horizonterweiterungen handelt das Projekt „Das Land fliesst wirklich“, das Thomas Stricker momentan parallel in Düsseldorf und Kenia realisiert. Der vom Kanal-/Wasserbauamt und der AWISTA in Düsseldorf initiierte Wettbewerb für eine künstlerische Arbeit im Aussenraum ließ Stricker eine mit der Funktion der Auslober in Verbindung stehende künstlerische Arbeit entwickeln: einen zweigeteilten Brunnen. Stricker wählt hiermit ein altes und symbolreiches, zugleich skulptural oder architektonisch zu verstehendes Objekt, welches in der Stadtplanung seit der Antike auch eine übergeordnete, da politische Bedeutung einnimmt. Brunnen – Trinkwasserspender und springende Stadt-und Gartendekorationen – sind lebendige, lebenspendende und lebensfrohe Ausdrucksträger eines erreichten Wohlstands, einer Repräsentation von Macht. Wenn Stricker in Düsseldorf eine symbolische Brunnenstube baut, die real nur auf „der anderen Seite der Erdkugel“ frisches Wasser fließen lässt, dann erkennen wir Kunst im öffentlichen Raum als politisches Moment mit weitreichenden Konsequenzen oder Horizonten. Beide Brunnen sind der künstlerische Entwurf eines Weltbildes, das erste und dritte Welt koppelt, letztlich unser Bewußtsein, unseren Gedankenraum mit der Realität der Anderen und Fremden in eine bodenständige Abhängigkeit bringt.

Innenwelten. In zwei weiteren aktuellen Arbeiten interessieren Thomas Stricker ähnlich gelagerte Kontaktaufnahmen. Für den Innenhof des Seegerichtshofs in Hamburg entsteht eine über einen Holzsteg zugängliche und betretbare Bronzeskulptur. Die archaisch- organisch geformte Kugel besitzt Tür und Bullaugen, wirkt wie aus den Tiefen des Meeres oder Weltraums aufgetaucht. Es ist der Versuch, das Meer zu Wort kommen zu lassen, eine intuitive Kommunikation des Menschen (und der Verantwortung) mit dem Meer aufzubauen. Für die Gruppenausstellung „Plug-in“ im Westfälischen Landesmuseum in Münster wurde die zweite Hamburger Skulptur, die verlorene Gußform und Styropurkugel erneut gebaut und installiert. Die im musealen Innenraum positionierte Arbeit bietet den Besuchern die Möglichkeit, mittels einer schwenkbaren Kamera den Innenraum der Kugel abzutasten und auf einem Bildschirm und einer Beamerprojektion das Gefilmte zu sehen. Die Kraterlandschaft der Kugelinnenoberfläche generiert so zur medialen Beobachtungsebene einer virtuellen, möglichen Skulptur – oder eines fremd und sehr fern erscheinenden Objekts in der Anmutung eines Himmelskörpers. Was bei „Aussendienst“ Teil des öffentlichen Prozesses war, der Blick in die Kugel, ist in Münster medialer Prozess und steuerbare Erweiterung des Wahrnehmungsfeldes im öffentlichen wie künstlichen Umraum. Unsere Vorstellung von fremden Räumen und ihrer Realisierung – sei sie real, mediatisiert oder virtuell – gelangen bei Thomas Stricker dank der wechselseitigen Prozesse zwischen (traditioneller) skulpturaler Ausformung, übertragener Assoziation und visueller aber auch verbaler Kommunikation zu die neuen Medien nutzenden, nach innen und außen gerichteten Zusammenhängen.

Der Traum vom Fliegen. Das Unbewußte scheint als materielle Sonderform von Außen im Außen des Innen auf. Die spezielle Beziehung zu formlos geformten Skulpturen kennzeichnet das prozessuale Verfahren von Thomas Stricker. Der klassisch zu nennende Gußprozess, das Ausformen des Meteoriten in der rollenden Kugelschale, das Freischälen oder das „Gebären“ eines Objektes nicht wie vom anderen, sondern als anderer Stern, sein Eintreffen am Ort, all das erscheint wie ein unbewußt bewußtes Zeichen und fordert Fragen an den Begriff von Kunst heraus, in dem die formlose, chaotische Struktur eines Meteoriten eher als Fremdkörper denn als Kunstobjekt wahrgenommen wird. Ein Meteorit ist pure, womöglich sogar die wahre, vollkommen erdunabhängige Natur. Wie in SciFi- Filmen ist die Meteoritenwerkstatt und die resultierende Skulptur eine Relativierung von Natur und Kunst, von Wahrscheinlichem und Unwahrscheinlichem, eine zauberhafte Studioleistung handwerklicher Qualität: Eine Traumfabrik und Traumprojektion. Mit seinem Projekt für „Aussendienst“ bündelt Stricker Material und Mythos über die Außenfläche als verzerrte Spiegelung des Umraums; das Vertraute liegt demnach im Fremden und umgekehrt, oder: das Imaginäre fällt symbolisch im Realen zusammen. Die Grenzen von Etwas zu erreichen und zu überschreiten ist unser entropisches Gewissen, in dem die Bedeutung von Etwas letztlich völlig unbedeutend ist. Jeden Tag – vor allem jede Nacht, – oder sind sie schon einmal einem Meteoriten begegnet? Mit ein wenig Glück, fällt er Ihnen wie in Hamburg ganz sanft vor die Füße. Vergessen sie nicht, es sich zu wünschen.