permanent lightning

Renate Ulrich, 2009

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Rede zur Übergabe der Skulptur von Thomas Stricker, die im Rahmen des Sparda-Kunstpreises 2009 realisiert wurde, an die Bürger der Stadt Grevenbroich am 28.
August 2009.

Besser als ich, meine Damen und Herren, kennen Sie den Stolz, mit dem sich Grevenbroich „Bundeshauptstadt der Energie“ nennt. Wo wäre ein besserer Platz, um über den Blitz zu reden? Sei es in Form einer naturwissenschaftlichen Betrachtung, oder wie heute Abend mit Bezug auf ein außergewöhnliches Kunstwerk.

Wiederholen wir zunächst ein wenig Schulwissen: Blitze entstehen, wenn feucht-heiße Luft sehr schnell in kalte Luftmassen strömt. Zwischen den unterschiedlich geladenen Luft- und Wasserteilchen findet schließlich eine heftige Funkenentladung statt, die sich uns als Lichtbogen zeigt.

Bis zu zwei Millionen Blitze zucken pro Jahr über Deutschland, fast 70 Menschen werden tödlich getroffen. Und bis zu 100 Millionen Volt werden beim Einschlag freigesetzt; das ist ein bisschen mehr, als die Steckdose zu bieten hat. Könnte man die Energie aller Blitze einfangen – so rechnete das Forschungsinstitut Jülich aus -, wäre die Summe dennoch nur etwa ein Zehntel des jährlichen Stromverbrauchs in der Bundesrepublik: Der Energiehauptstadt Grevenbroich droht also von dieser Seite keine ernsthafte Konkurrenz.

Dass die schauerlich-schöne Himmelserscheinung Menschen von Anbeginn an fasziniert hat, lehrt uns der antike Mythos des Blitze schleudernden Zeus.

So, wie wir uns von den unbeherrschbaren Kräften der Natur geängstigt und gleichzeitig bezaubert fühlen, so waren auch die Künstler seit jeher von Himmelserscheinungen und Naturereignissen fasziniert:
Pieter Breughel stellte im 16. Jahrhundert als erster Maler den vom Himmel fallenden
Schnee dar. William Turner ist im frühen 19. Jahrhundert der Meister in der Darstellung
von Sonne, Nebel und Sturm.

Aber Thomas Stricker, meine Damen und Herren, ist meines Wissens der einzige europäische Künstler, der uns den Blitz als Skulptur vor Augen führt, der nämlich das zweidimensionale Himmelsbild in ein dreidimensionales Gebilde überführt. Der Bildhauer Stricker hat in Grevenbroich eigentlich Unsichtbares sichtbar gemacht. Damit hat er bereits ein Kriterium für die Kunst erfüllt – wenn auch zunächst nur äußerlich betrachtet. Er hat den Blitz, meine Damen und Herren, von höchstens einer 50stel Sekunde Dauer als ein von allen Seiten betrachtbares dauerhaftes Monument in Ihren Stadtgarten gebracht.

Der logistische und technische Aufwand hierfür war immens; denn:
einen künstlerischen Wettbewerb mit einer überzeugenden Idee und einem schönen Modell zu gewinnen, das ist nur die eine Seite.

Fünf Wochen lang waren der Künstler, ein Statikbüro und 30 bis 40 Arbeiter intensiv
damit beschäftigt, diese Idee in die Realität umzusetzen. Die filigran anmutenden
Verästelungen des Blitzes bestehen aus bis zu 17 Zentimeter starken Edelstahlröhren. Mit großer Kunstfertigkeit mussten die gekrümmten Einzelteile verschweißt und geschliffen werden. Schließlich wurde vor Ort die über 2 Tonnen schwere Gesamtskulptur zusammengesetzt und wiederum verschweißt.

Das über 12 Meter hohe und acht Meter ausladende Werk beeindruckt uns aber nicht
allein wegen seiner Dimensionen und seiner technischen Perfektion. Es ist vielmehr die
hohe Sensibilität, mit der Thomas Stricker hier das Verhältnis des Menschen zur Natur
in Form eines Sinnbilds formuliert. Das ist das Leitthema des Künstlers seit vielen Jahren. Ihn fasziniert das Unvorhersehbare der Natur als Teil unseres Lebens. Und ihn
beunruhigt die Vermessenheit des Menschen, die Natur beherrschen zu wollen.

Lassen Sie mich dies mit einem kurzen Blick auf Person und Werk des Künstlers
deutlich machen:

1962 im schweizerischen St. Gallen geboren, studierte Thomas Stricker an der
Kunstakademie Düsseldorf, wo er als Meisterschüler von Prof. Klaus Rinke abschloss.
Er wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, stellte im In- und Ausland aus. In den vergangenen zehn Jahren hat er zahlreiche Kunstwerke für den öffentlichen Raum geschaffen. Soeben hat er einen Wettbewerb zur künstlerischen Gestaltung des Außenraums beim Berliner Bundesarchiv gewonnen.

Die Grevenbroicher dürfen sich also glücklich schätzen, ab heute das Werk eines so
gefragten Künstlers in ihrer Stadt zu beherbergen. Einmal mehr erweist sich das
Rheinland als fruchtbarer Boden für Künstler und hier für einen Bildhauer, der darüber
hinaus Erfahrungen in der Mongolei, in Australien und Afrika gesammelt hat.

Zu den frühen Arbeiten Strickers gehört die vor zehn Jahren entstandene Skulptur mit dem Titel „Und sie dreht sich doch“, realisiert für die Heilpädagogische Schule im
Schweizerischen Flawil. Ein silbrig schimmernder Meteorit scheint vom Himmel
geradewegs in einen Baum gestürzt zu sein. Der damals noch junge Baum musste zunächst gestützt werden, um die Last tragen zu können. Er wächst nun beständig und kann die Belastung allein aushalten, ganz so wie die behinderten Kinder, die in der Schule von Flawil auf ihr schwieriges Leben vorbereitet werden. Strickers Meteorit im Baum dürfte den Kindern wohl wie eine Sternschnuppe vorkommen, die Wünsche und Sehnsüchte erfüllt.

Ein anderes Projekt Strickers ist seine Brunnen-Anlage, die er „Das Land fließt wirklich“
genannt hat. Der Wahl-Düsseldorfer Stricker hatte mit seinem Entwurf einen Wettbewerb des Kanal- und Wasserbau-Amtes und der Awista in Düsseldorf gewonnen. Vor deren Neubau platzierte er einen zweiteiligen Brunnen. Ein echter Wasser-Brunnen wurde auf
der anderen Hälfte des Globus, in Kenia, gegraben. Menschen und Tiere im kenianischen Dorf Kivaa werden nun mit frischem Wasser versorgt; die Düsseldorfer Bürger können dies per Foto auf dem Grund ihres Brunnens nachverfolgen. Stricker wählte für diese Arbeit das Element Wasser, um ein drängendes globales Problem, das uns Europäern so weit entfernt erscheint, augenfällig und konkret darzustellen.

Doch was hat dies alles, ein Schweizer Kunst-Meteorit und ein afrikanischer Brunnen,
mit dem Blitz in Grevenbroich zu tun?

Bevor Thomas Stricker ein künstlerisches Projekt angeht, analysiert er genau den künftigen Aufstellungsort. Neben den konkreten räumlichen Gegebenheiten interessieren ihn die Geschichte des Ortes und das, was die dort lebenden Menschen bewegt. In Strickers Werk ist ablesbar, wie Kunst und Leben in einem Prozess von Gestaltung und Wahrnehmung verschmelzen. An diesem Prozess nehmen der Künstler als Beobachter und Schaffender und der Betrachter als Wahrnehmender gleichermaßen teil. Thomas Stricker interessieren die gesellschaftlichen und die sozialen Implikationen. Sie sind ihm ebenso wichtig wie beispielsweise die klassische Frage: wie baut sich eine Skulptur materiell auf.

In der jüngeren Kunstgeschichte spricht man von „sozialer Skulptur“. Darin folgt
Thomas Stricker, so meine ich, den Spuren von Joseph Beuys. Beuys war zwar nicht sein direkter Lehrer, aber gleichwohl hat der Meister Generationen von Künstlern beeinflusst. Beuys ging bei seinen Aktionen im öffentlichen Raum den Weg der Verzahnung von subjektivem und kollektivem Akt. Für ihn – erlauben Sie mir, dass ich dies so verkürzt darstelle – ging es darum, dass die Kunst weit über das bloß Ästhetische hinausgreift und in der Öffentlichkeit als Impulsgeber wirkt. Die künstlerische Tätigkeit im öffentlichen sozialen Gefüge sollte – nach seiner Auffassung – das herkömmliche Kunstwerk in einen geistigen und sozialen Prozess überführen.

Lieber Thomas Stricker, vielleicht gehe ich nun ein wenig zu weit, Sie in den Fußstapfen
von Joseph Beuys zu sehen, aber einige seiner Ideen finde ich durchaus in Ihrem Werk
wieder.

Was sind nun die Gedanken, zu denen der Künstler uns mit seiner Skulptur hier in
Grevenbroich leiten will???

Stricker schilderte mir, dass ihm ein Naturereignis wie der Blitz Ehrfurcht und Respekt
einflößt. Der Blitz ist für ihn Sinnbild von nicht beherrschbaren Naturkräften, denen wir
uns als Menschen nur demütig nähern können. Einerseits ist da die elementare
Unbezwingbarkeit der Natur. Andererseits nehmen wir die Natur für unsere Lebensinteressen in den Dienst. Nur wenige Kilometer von hier fressen sich
Riesenbagger in die Millionen Jahre alte Braunkohle und verwandeln eine seit
Urzeiten entstandene Kulturlandschaft von Grund auf. Dies macht die
„Bundeshauptstadt der Energie“, meine Damen und Herren, in doppelter Hinsicht zu einem spannungsgeladenen Ort, der den Künstler geradezu inspirieren musste.

Wenn in Ihrer Arbeit, lieber Herr Stricker, auch sozial bedeutsame Aspekte eine große
Rolle spielen, so steht am Ende des künstlerischen Prozesses dennoch ein autonom gestaltetes Werk, das für sich spricht. Es ist – so denke ich, meine Damen und Herren – durchaus gestattet, den Blitz, der hier mitten zwischen Ihnen nun auch
gedanklich eingeschlagen hat, als nur schön zu betrachten.

Thomas Stricker hat für das flüchtige Phänomen des Blitzes eine skulpturale Lösung
gefunden, die als kraftvolles Monument nicht mit sinnlichen Reizen geizt. Gleichzeitig
sehen wir das Kunstwerk auch als ein eindringliches Plädoyer für den demütigen Umgang mit den Wundern der Natur. Der Bildhauer selbst spricht von „einem künstlerischen Versuch, Immaterielles in Materielles zu verwandeln, eine extrem kurze Zeitspanne in eine permanente Form zu gießen, die Zeit anzuhalten, um den Himmel
auf die Erde zu holen.“ Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
copyright by Renate Ulrich

Referentin in der Kulturabteilung der Staatskanzlei NRW