Pia Witzmann: Bezogen auf den Titel Deines Buches stellt sich mir natürlich die Frage:
Was bedeutet der Begriff Skulptur für Dich?
Thomas Stricker: Mit dem Titel dieses Buches welcher auch die Überschrift von dem meinen Arbeiten zugrunde liegendem Konzept der „108 skulpturalen Fragen“ ist, versuche ich herauszufinden, was heute Skulptur ist, wo für mich der Kern sein kann. Dieses Grundkonzept ist eine Forschungsebene und ein Experimentierfeld um die Möglichkeiten von Skulptur auszuloten. Insofern stelle ich mir diese Frage oft und auch mit diesem Buch. Das Feld der Fragen ist mir lieber als das der Antworten. Mich interessiert vor allem was Skulptur sein könnte. Die Möglichkeit, die Utopie, die suche ich, die interessiert mich. Aus meinem Blickwinkel heraus kann Skulptur fast alles sein. Skulptur ist Realität, im Gegensatz zur Malerei, zu einem Bild, sie begegnet uns in drei Dimensionen als reales Gegenüber. Auch in der vierten Dimension, als zeitlicher realer Prozess. Das ist das grossartige an der Skulptur, dass sie Teil des realen Lebens ist und auch da eingreifen kann. Und natürlich auch das Problem, denn ich stelle die Welt auch weiter voll, immer in der Hoffnung mit etwas, das sein reales, materielles Dasein auf einer immateriellen, emotionalen und geistigen Ebene wieder wettmacht. Vielleicht ist eine Skulptur, im besten Fall, ein Ding, welches mir nicht die Sicht versperrt, sondern meinen Horizont erweitert?
Pia Witzmann: In welcher Beziehung steht Deine künstlerische Arbeit zur „Sozialen „?
Thomas Stricker: Die Räume die Joseph Beuys aufgetan hat, vor allem die Erweiterung des Kunstbegriffs in den sozialen Raum finde ich enorm wichtig, interessant und beschäftigen mich sehr. Einige meiner jüngsten Projekte kreisen um dieses Thema und fragen, was eine soziale Skulptur sein kann. Angefangen hat es 2001 mit einer zweigeteilten Brunnenskulptur, mit der ich versuchte herauszufinden in wie weit eine Skulptur sozial engagiert sein kann. Einerseits baute ich in Düsseldorf für das Kanal- und Wasserbauamt eine Brunnenstube, die Fassung der (Geld- )Quelle. Andererseits wurde auf der anderen Seite der Erde in Kiwaa, Kenia ein Brunnen gebohrt, welcher dort für 160 Familien frisches Trinkwasser zur Verfügung stellt. Und natürlich der Schulgarten an der Primary School Kalkfeld in Namibia, mein Lieblingsprojekt, welches 2007 eröffnet wurde und wo nun schon im fünften Jahr unterrichtet, gesäät, geerntet wird und das sich so erfreulich entwickelt. So, dass selbst im Township plötzlich ganz viele Gärtchen zu sehen sind. Wahrscheinlich ist es eine sehr einfache und bodenständige Interpretation der sozialen Plastik. Aber gerade dieser Umgang mit dem Thema macht mich sicher und sehr zufrieden. Ich freue mich sehr, wenn eine Skulptur Früchte und Gemüse abgeben und das Schulessen bereichern kann. Oder wenn mitten in Mexico City, in einem sehr negativ auffallendem Stadtteil, plötzlich neue Erde entsteht. Oder was meinst Du, was und wieviel haben meine Projekte mit der „Sozialen Plastik“ zu
Pia Witzmann: Ja, ich denke da natürlich an die 7000 Eichen von Beuys. Die Bäume auch als Geschenk an die Kasseler Bürger, dann auch Skulptur, die Bedeutung in Verbindung mit den Basaltsteinen und zu Beginn der riesige Berg von Basaltsteinen vor dem Museum Fridericianum als Skulptur und Aufforderung. Dein Projekt in Namibia besitzt auch diese Erweiterung: der Garten als Skulptur, als Lehrstück und Geschenk an die Kinder und Dorfbewohner mit der Möglichkeit, es fortzusetzen und auszuweiten. Was war das für ein Projekt in Mexiko?
Thomas Stricker: 2009 wurde ich eingeladen ein Projekt für „residual“ eine Ausstellung im öffentlichen Raum von Mexico City, zum Thema der Müllproblematik in der Stadt, zu entwickeln und zu realisieren. Das Thema war für mich dann auch schnell eingegrenzt, denn das einzige wovon ich in diesem Themenkomplex, fast schon aus familiärer Tradition, wirklich was verstehe ist das Kompostieren. Kompostieren ist ein vollkommenes Entsorgungssystem, ein perfektes Recycling, welches überall auf der Welt angewendet werden kann, auch in einer Stadt wie Mexico City. Das Schöne daran ist, dass es kein rein technischer Prozess ist, sondern eine natürliche interdisziplinäre Zusammenarbeit von Menschen, Kleintieren, Pilzen, Bakterien, der Luft und Wasser. Das Begreifen des Kompostierens und das Betreiben eines Kompostes beseitigt nicht einfach nur Müll, sondern klärt den eigenen Standpunkt und schärft insgesamt das Bewusstsein im Umgang mit Müll, Resourcen und der Welt. Es stellt uns als Menschen mitten hinein in den grossen Kreislauf von Werden und Vergehen. Mit diesen Gedanken und der Grundidee im Kopf, eine autonome Kompostgruppe zu gründen und eine selbstverwaltete Stadtteilkompostieranlage als dezentraler nachahmbarer Modellversuch zu bauen, reiste ich vor zwei Jahren das erste mal zur Vorortrecherche nach Mexico City. Wider Erwarten fanden sich in diesem riesigen urbanen Moloch durch Zufälle und glückliche Umstände recht schnell Freiraum und vorallem offene und interessierte Menschen, die ersten zukünftigen Composteros. Im Stadtteil Tlatelolco, eine riesige „Wohnmaschine“, gebaut in den 50er Jahren, mit Platz für bis zu 15’000 Menschen in balkonlosen Apartments. Der zum Teil ungenutzte öffentliche Raum zwischen den Wohnblocks bietet zum einen den erforderlichen Platz als auch die nährstoffarmen organischen Reststoffe die zum Kompostieren notwendig sind. Zum anderen war mein Ziel nicht nur einen Ort zum Kompostieren zu schaffen, sondern gleichzeitig den anonymen öffentlichen Raum partiell für eine halbprivate Nutzung und als sozialen Aufenthaltsort zu öffnen. Ein gutes halbes Jahr später, nachdem alles geplant und die Bewilligungen eingeholt waren reiste ich wieder nach Mexico. Zusammen mit Arbeitern und den Composteros errichteten wir auf einer etwas verwahrlosten Fläche zwischen den Hochhäusern einen schönen Ort zum Kompostieren, als sozialer Treffpunkt und dem Anfang eines Obstgartens. Parallel zu diesen baulichen Massnahmen versuchte ich in einer sehr angenehmen und euphorischen Stimmung mein Kompostwissen in unterschiedlichen praktischen Workshops zu vermitteln und zusammen mit den Composteros eine praktische Gruppenstruktur zu organisieren. Sehr schnell wurde von den Bewohnern wahrgenommen, dass hier von dem meist negative Schlagzeilen machenden Tlatelolco, wie Massaker 1968, Erdbeben 1985, Zerfall und Kriminalität, plötzlich ein positives Signal ausging: „La tierra nueva de Tlatelolco“, die neue Erde aus Tlatelolco, das Endprodukt des Kompostierens. An einem Ort wo in prähispanischer Zeit der grösste Tauschhandelsmarktplatz des Kontinents war. Auf aztekisch bedeutet tlatelolco „die Kunst des Tauschens“, damit sind wir mittendrin in der sozialen Skulptur, gleichzeitig im der Natur das zurückgeben was wir von ihr erhalten haben und im Kreislauf schliessen, mittendrin im Kompostieren.
Pia Witzmann: Und wie geht es in Mexiko weiter?
Thomas Stricker: Als ich vor anderthalb Jahren nach einer super schönen Einweihung des Kompostplatzes mit den wunderbarsten mexikanischen Köstlichkeiten wieder abreisen musste, war die Kompostgruppe sehr gut aufgestellt und optimistisch. Die Listen für die diversen, fast täglichen Einsätze, wie Mischen, Aufsetzen, Häckseln, Giessen, Platzkontrolle waren gut gefüllt. Der vorher anonyme Ort hatte ein Gesicht gekriegt und der Kompostplatz wurde von den Composteros als „Ihrer“ begriffen und genutzt. Meist per mail wurde ich über den Stand der Dinge informiert, mit Bildern versorgt und ich konnte mitverfolgen wie gut sich alles entwickelt und weiterläuft. In letzter Zeit ist es etwas stiller geworden, die letzen Bilder liegen auch schon über ein halbes Jahr zurück. Ich vermute es läuft gerade nicht ganz optimal, wahrscheinlich wäre ein update, ein Input an Energie und Engagement von meiner Seite her von Nöten. Aber das ist nicht so einfach. Es ist alles offen.
Pia Witzmann: Was ist in deinen sozialen Projekten denn die Kunst, was die Skulptur, wo liegt der Kern?
Thomas Stricker: Am Beispiel des Schulgartens für die Primary School in Kalkfeld würde ich ganz klar sagen, solange dort Agrikultur unterrichtet, gesäät, gegossen und geerntet wird, ist genau das der Kern, die Soziale Skulptur. Nicht die formal ästhetischen Dinge wie das Schattendach und die Gestaltung der gesamten Anlage des Schulgartens. Aber so ganz stimmt es nicht, es ist ein Zusammenspiel, die Gestaltung eines Ortes beeinflusst viel, auch ein Gelingen eines sozialen Prozesses. Insofern ziehe ich keine scharfe Trennlinie zwischen „traditioneller Bildhauerei und Projekten, die in sozialen Räumen stattfinden“.
Pia Witzmann: Wie siehst Du im Verhältnis zu den Projekten in Afrika und Mexiko Deine gesamte skulpturale Arbeit? Zum Beispiel hast Du in Grevenbroich einen Blitz als Skulptur installiert, ohne soziale Interaktion, aber dennoch mit dem Verweis auf die Stadtgeschichte und der eingehenden Beschäftigung mit der Region.
Thomas Stricker: Auch das ist der Versuch dieser Publikation auf diese Frage eine Art Antwort zu geben. Verbal fällt es mir schwer das zu beantworten. Aber ich stelle mir diese Frage auch, sowohl nach Innen als auch nach Aussen. Deshalb habe ich ja gerade genau diese beiden Arbeiten die Du angesprochen hast unmittelbar hintereinander an den Anfang dieses Buches gestellt und diesen Bogen gespannt, als Spektrum meiner Auffassung von Skulptur. Mehr oder weniger innerhalb dieses Spektrums bewege ich mich und mäander wie ein Fluss auf der Suche nach dem Meer. Ich versuche diese Pole zu verbinden. Von meinem Empfinden her liegen sie weniger weit auseinander als die Kategorien der Rezeption dies einstufen. Ein anderer mir wichtiger Punkt in Deiner Frage ist die Frage nach der Ausrichtung einer künstlerischen Arbeit. Da versuche ich seit Beginn meiner künstlerischen Arbeit die Weite der Möglichkeiten nicht einzugrenzen. Wenn es einen roten Faden gibt, ziehe ich ihn nicht hinter mir her, sondern werfe ihn immer wieder voraus. Als dritter Punkt bringt meines Erachtens natürlich auch mein ganz klar ortsspezifisches Arbeiten noch eine grosse Portion notwendiger Diversität mit sich. Beziehungsweise die Bereitschaft mich immer wieder neu auf etwas einzulassen, mich zu öffnen. Immer wieder die Frage, was macht wirklich Sinn am jeweiligen Ort. Ich suche nach Skulpturen mit Daseinsberechtigung.
Pia Witzmann: Der Diskurs zur „Site Specificity“ macht die Veränderungen der letzten Jahrzehnte deutlich. Die verschiedenen Ansätze zur Ortsspezifität verlaufen nicht chronologisch, sondern teilweise parallel und doch sieht man seit längerem eine Hinwendung zu einer projekt- und ortsbezogenen Kunst, die viele Bereiche, z.B. des politischen und sozialen Lebens mit einbezieht. Zudem nutzen KünstlerInnen ihre Projekte und Aktionen zum Protest gegen soziale und politische Missstände und stellen manches Mal das Betriebssystem Kunst gänzlich in Frage. Zudem fließen, wie bei Christoph Schlingensief, unterschiedliche künstlerische Disziplinen ineinander, auch um die Mittel der Provokation und des Protestes ausschöpfen zu können. Wie stehst Du dazu?
Thomas Stricker: Provokation interessiert mich nicht. Meist führt es nirgendwo hin. Aber Protest ist unbedingt notwendig, vor allem wenn gleichzeitig nach konstruktiven Ansätzen gesucht wird. Das versuche ich. Das interessiert mich wirklich, ortsspezifische, politische, soziale und künstlerische Konzepte zu entwickeln und zu realisieren. Da fühle ich mich sehr wohl und da will ich auch weiter meine Energie einsetzen. Der Schulgarten im namibischen Township ist weit kritischer und politischer als es vielleicht den Anschein macht. Er untergräbt konstruktiv die bestehenden Vorurteile und scheinbar unüberbrückbaren Fronten zwischen Schwarz und Weiss als auch zwischen Sesshafter und nomadisierender Kultur. Auch eine Form des Protests.
Pia Witzmann: Über den Sinn von Provokation und Protest kann man lange diskutieren, die „Chance 2000“ von Schlingensief fand ich toll und auch viele andere seiner Aktionen, vor allem auch in der Zeit, in der er noch nicht so im Rampenlicht stand. Auch Beuys hat protestiert, konstruktiv, man denke an das „Büro für direkte Demokratie“, die „FIU“ etc. Könntest Du Dir vorstellen, Deine Projekte in Afrika und Mexiko auszuweiten und auch in anderen Ländern zu realisieren? Oder siehst Du Projekt und Ort jeweils als Einmaligkeit?
Thomas Stricker: Je nach Projekt kann ich mir eine Ausweitung sehr gut und sehr gerne vorstellen. Mein Kompostprojekt ist ja sogar darauf angelegt, als nachahmbarer Modellversuch einer selbstverwalteten Stadtteilkompostieranlage. Meine Vision war ja, dass in Tlatelolco noch weitere Gruppen entstehen, aber da müssen wir erstmal sehen. Dieses Projekt ist im Grundkonzept natürlich absolut ortsunabhängig, das funktioniert überall auf der Welt und macht auch überall Sinn, es muss nur im Konkreten verortet werden, was ungemein wichtig ist und wo auch viel Sensibilität und Kreativität gefordert ist. Auch das Schulgartenprojekt ist natürlich ortsunabhängig. Auf jeden Fall möchte ich mit solchen und neuen Projekten auch in anderen Orten und Ländern weiter machen. Dann gibt es aber auch einmalige Arbeiten, die funktionieren wirklich nur an einem bestimmten Ort. Zum Beispiel „Blüht es oder blüht es nicht?“. Auch viele meiner anderen Arbeiten sind sehr ortsspezifisch, wenn manchmal auch erst auf den zweiten Blick sichtbar. Zum Beispiel „permanent lightning“, für den gibt es nicht viele Orte. Oder die Arbeit „und sie dreht sich doch“ auf dem Pausenhof der heilpädagogischen Schule ist eng mit der Andersartigkeit der Kinder und der Aufgabe der Lehrer verknüpft.
Pia Witzmann: Du arbeitest gerade an einem großen Projekt in Berlin. Könntest Du dazu was sagen? Hast Du noch andere Projekte in Planung?
Thomas Stricker: Ja, für das Bundesarchiv in Berlin entsteht in den nächsten Jahren eine grosse skulpturale Landschaft, die „Gedächtnislandschaft“ im Innenhof des neuen Gebäudes. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Pauli Landschaftsarchitekten. Die U-Bahnstation in Düsseldorf kommt nach 10jähriger Planung auch endlich in die Realisierungsphase, in den Niederlanden werden die nächsten Jahre weitere „agrarstatistische Felder“ entstehen und in Namibia im Schulgarten wird es auch zu tun geben. Auf der ganzen Breite des am Anfang dieses Buches aufgemachten skulpturalen Spektrums geht es weiter und das freut mich sehr.