Text

Hans Ulrich Reck, 1997

[Download als PDF]

„Denn auch die Rede, Sprache ist ein Sichzeigen des Geistes in der Äußerlichkeit, doch in einer Objektivität, die, statt als unmittelbares Konkret-Materielles Gültigkeit zu haben, nur als Ton, als Bewegung, Erzitterung eines totalen Körpers und des abstrakten Elements, der Luft, eine Mitteilung des Geistes wird.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Teil. Das System der einzelnen Künste. Zweiter Abschnitt: Die Skulptur)

Der Künstler Thomas Stricker bewegt sich beispielhaft und beispielgebend in der gegenwärtigen Situation der Kunst, der Situation des Gegenwärtigen. Seine Werke gehen aus einem beharrlichen, stetigen, sorgfältigen, langen und wohlbedachten Prozeß hervor. Da er, unabhängig von der Vielzahl der benutzten Medien, doch immer wieder die bildhauerische Plastizität ins Zentrum stellt, bewegen sich seine Werke bewußt an den Schnittstellen zwischen Nähe und Ferne, Anwesenheit und Abwesenheit , Universalität und Singularität. Seine Werke lassen sich radikal – im ursprünglichen Wortsinn „wurzelschlagend“- auf die ihnen zugrunde liegenden Konzepte ein. Es entstehen über die Jahre Ähnlichkeiten zwischen Werken, zuweilen bilden sich komplexe Serien, die jedoch niemals stetig oder linear sind. Schon einmal benutzte Formen und Materialien tauchen in einem Prozeß der Umbildung, einer Metamorphose wieder auf. Die in der Aktion „Geophonische Anhebung des Meeresspiegels auf 691 m“ pneumatisch belebten Gummiskulpturen werden, verändert und weiterentwickelt, in der Installation „Geophonie“ von 1993 mit den nun als skulpturale Formen erscheinenden, von sechs Stühlen stabilisierten Gußkugeln und sechs Videomonitoren kombiniert, welche verschiedene Teile der Aktion und des Arbeitsprozesses nicht zu didaktischen Zwecken demonstrieren, sondern als visuelle und akustische Elemente der Installation selbst verwenden. Und zwar so, daß durch zeitliche Verschiebung sichergestellt ist, daß sich die einzelnen Videobandschlaufen zu einem variablen, nicht wiederholenden Ganzen fügen. Die Verwendung von aufgezeichnetem Prozeßmaterial führt die vergleichende Betrachtung zu der viel stärker auf die Monitore fokussierten Arbeit „Tempolimit und Sandalengeschenke“ von 1996. Die drei unterhalb der Monitore liegenden Wachs- und Gummiskulpturen hat Stricker ebenso in aufwendigem selbstentwickeltem Verfahren hergestellt wie die Gummihäute für die „Geophonie“. Die Skulpturen sind beweglich nicht nur im Hinblick auf ihr Pneuma, den Atem, die Verhältnisse zwischen Erstarrung und Verflüssigung. Sie sind auch beweglich im Hinblick auf thermische Grenzwerte, d.h. ab bestimmten Temperaturen verformen sich die Objekte, verfließen gar.

Die auf Holztische gestellten Körper der Skulptur „Ein fester Körper in einem festen Körper“ sind ebenfalls im Schwenkgußverfahren verfertigt. Durch die in den Gußformen ablaufenden Vorgänge, die nicht linear, sondern chaotisch und turbulent sind, also Zufälligkeiten produzieren, ergibt sich eine – amorph wirkende -Oberflächenstruktur, in diesem Falle eine stabile Haut. Stricker versteht die Anordnung der Körper, die durch einen Vorgang der Schälung von außen nach innen gewonnen werden, als Proportionierung der Volumina. Die Körper bilden ein Energiefeld, in dem sie selber Kristallisationspunkte und Transformatoren der Energieflüße sind. Deren Räume öffnen sich nach außen und nach innen. Die Verdichtung des gesamten Vorgangs zeigt, wie sehr die mediale Arbeit des Bildhauers Thomas Stricker von der Materialität und der Widerständigkeit der Dinge, auch der in seiner Vision vorgestellten, ausgeht. Der Prozeß der Kunst muß durch diese Medien hindurch. Dabei kommen die Resistenz der Stoffe und der Widerstand des Realen zu ihrem Recht.

Das Moment des Widerstehens wird auch sichtbar an der Oberfläche, der Taktilität. Zuweilen wird der eigene Körper als Ausdrucksträger und Material benutzt. In „Tempolimit und Sandalengeschenke“, werden Bilder vom Künstler als Wanderer, der undeutlich und als Silhouette auf den drei Monitoren erscheint, kombiniert mit alternierend durchlaufenden, die Richtung des Wanderers ändernden Worten und Sätzen; Material aus der Arbeit „108 Fragen an die Nomadin mit dem Gewehr“. Silhouette und Worte erscheinen, in ihrer formalsprachlichen wie ihrer bedeutenden Dimension, als Zeichen und als Bezeichnung, als Aussage und als Bild, die beide gleichermaßen wichtig sind, ähnlich wie die Ornamente der Rhetorik im Verhältnis zu den Propositionen oder wie das Zeigen im Verhältnis zum Bezeichnen. Der Kontrast von Monitor und Skulptur, Zeitbild und Raumkoordinate ist ein wesentliches Motiv in mehreren Arbeiten von Thomas Stricker. Er setzt Medien zuweilen als in der Zeit bewegliche Erscheinungs-(ober)flächen, zuweilen aber auch als Eingriffe am Körper ein, indem er von unterschiedlichen Zeitrhythmen ausgeht, mediale Eigenzeit an der physikalischen Zeit bricht und damit den medialen mit dem gewohnten Raum verbindet. In der Arbeit „Wildheitsmeßstelle“ von 1990, ebenfalls mit Gummimilch im Schwenkgußverfahren hergestellt, sind die Oberfläche und, bei pneumatischer Ausdehnung, auch die Gestalt durch die die Negativform bestimmenden Zufälligkeiten der chemisch-physikalischen Entstehungsprozeße geprägt. Es ist bezeichnend, daß Stricker vom Vorgang des Aufblasens nicht als von einer phonetischen Bewegung oder einem klanglichen Aus- und Einströmen ausgeht, sondern den Vorgang als ein Reden versteht. Die pneumatische Skulptur – als Gestalt auch eine Art Residuum der noch nicht gesprochenen Worte, der noch nicht formulierten Sätze, der noch nicht verketteten Geschichten und Erkenntnisse – verliert nach und nach an Volumen durch das unvermeidliche Entweichen von Luft. Eine Filmkamera nimmt alle 10 Minuten ein Einzelbild auf und gibt den Blick in diesen Zeitraffer 3 Jahre später auf einem Monitor in der „Geophonie“ wieder frei. Der kontinuierliche Prozeß erscheint dadurch artifizieller, geschärft an qualitativ ausgezeichneten Bruchstellen. Stricker macht damit auch klar, daß die lange in räumlichen, statischen Tableaus verfestigten Aussagen der Kunst – das Bild des Malers – durch technische Medien nicht einfach ergänzt, sondern im eigentliche Zeitmedien transformiert werden. Der Künstler als Akteur mit seinen Skulpturen, als Element in seinen Environments, als Pumpe des ihm zur Rede werdenden Einatmens und Ausblasens von Luft erfährt sich selber als Rhythmus, als Verkörperung einer vergänglichen, vorübergehenden, in verschiedene Intensitäten zerfallenden Zeit, die zwischen veränderndem Aufbruch und kreisförmiger Wiederholung pendelt.

Das Einrücken der bisher doch eher ortsbezogenen skulpturalen Formbestimmungen in Kategorien der Zeit – die Zeit des Herstellens, der Darbietung (Performance, Aktion), der Regenerierung der Pneumatik, des Betrachtens etc. – markiert einen wichtigen Zusammenhang im Werk Strickers. Man kann ihn, wenn auch unter der Oberfläche, ebenfalls finden in „108 Fragen an die Nomadin mit dem Gewehr“ von 1995, der bisher aufwendigsten Arbeit Thomas Strickers. Das gilt für die Vorbereitung der damaligen Reise in die Äußere Mongolei, das Konzept des Sammelns von Fragen, die an die Stelle der Antworten getreten sind, gilt aber auch für Gewicht und Dimensionierung der fertigen Arbeit aus Paraffin-Wachs. Sie präsentiert sich als Anordnung dreier Stapel, wobei der eine, so mindestens die bisher geltende, künftig wohl auch abänderbare Anordnungsvorschrift, als Fläche ausgebreitet ist. Die durch die Stapelung visuell gestützte, lastende Stille erzeugt merkwürdig intensive innere Klänge. Eine sakrale und gleichzeitig doch instrumentelle, an eine Baustelle gemahnende Atmosphäre beherrscht das Werk. Auch als Nichtkenner vermutet man, daß die Zeichenerhebungen auf den einzelnen Tafeln – ein Stapel besteht aus 24 – in Blindenschrift ausgeführt sind, also tastbar, für Blinde lesbar. Auf die 3 mal 24 Paraffin-Wachs-Platten sind die 108 Fragen notiert, die ebenso wenig wirkliche Fragen sind wie die Wachsplatten Notizzettel. Sie sind vielmehr verkürzende Erkenntnisformeln, kurze Sentenzen, Epigramme, Denkbilder, poetische Abbreviaturen, Sinngedichte, vielleicht auch Diagramme oder gar kryptische Programme, Projekte und Projektionen. Die Arbeit läßt eine Vielzahl individueller Anverwandlungen und Assoziationen zu. Die Auslegung der Texte als Buch, die Schichtung der Zeichen zu Stapeln, das Werkzeughafte und die Anklänge an geologische Schichtungen erzählen auf besondere Weise von der Beschreibung der Welt und von ihrem fernen, unfaßlichen Fluchtpunkt: daß in die Tiefe der Erdlagen sich doch einmal das Geheimnis der Natur einschreiben liesse, da es bisher nicht hat vorgefunden und gelesen werden können. Dieses wäre nicht mehr für das Auge lesbar, sondern müßte ertastet werden. Nur dem Tastkundigen steht die Einsicht in das Buch der Geheimnisse offen. Die der industriellen Herrschaft und damit einer Kriegsgeschichte verfallene Metaphorik vom sichtenden und registrierenden Blättern im Buch einer als jungfräulich stilisierten Natur unterm Regime des Auges und der Schrift, den Organen von Macht und Distanz, ist an ihr Ende gelangt, ohnmächtig geworden. Nur der, der dem Nahraum des Tastens sich ausliefert und der zu hören versteht, kann Erkenntnisse gewinnen. Geophonie und Geologie, Schichtung und das Ertönen des die Körper dehnenden Atmens in erklingender Rede verweisen im Werk von Thomas Stricker immer wieder aufeinander.Obwohl die Kunst innerhalb ihrer Vielheit immer wieder neue Differenzierungen schafft und ganz aus dem Blick der Gegenwart hervorgeht, leben in ihr zu Recht die Möglichkeiten der assoziierenden, der beiordnenden Verknüpfung. Strickers Aktion „Geophonische Anhebung des Meeresspiegels auf 691 m“ von 1992 beispielsweise erweist nicht nur die Lebendigkeit des Atmens als skulpturale Kraft, entwickelt nicht nur die Thematik einer bergenden, schützenden und einschließenden Haut, die diesen Atem bewahrt, um der Hülle eine Form zu geben, besser: die ihr eingeschriebene Form, die durch Materialeigenheiten bestimmt ist, zur Entfaltung kommen zu lassen. Die Betrachtung der Gummiskulpturen gibt den Blick frei auf den Zeitverlauf, in dem Möglichkeiten in Wirklichkeiten übergehen oder überführt werden. Der Zeitprozeß der Schöpfung ist Naturgeschichte, aber auch ein Stoff für die Visionen des Demiurgen (eines mythischen Welten-schöpfers) und vor allem des Alchemisten, der, entgegen der landläufigen Meinung, nicht einfach Wertloses in Wertvolles verwandelt, nicht blind und fanatisch die Fetischisierung am Dreck betreibt, als die sich das menschliche Bewußtsein durch seine Fixierung auf verfügbare Objekte so gerne herausstellt, sondern der ein Agent an Stelle der Naturgeschichte, Regisseur im Theater der Welt, finaler Manipulator natürlicher Endzwecke ist. Der Alchemist macht exakt das, was die Natur auch macht. Nichts anderes. Aber er macht es schneller, in reinerer Ausprägung und unbeirrter End-Tendenz. Zu Thomas Strickers „Geophonie“ gehört nun allerdings ein ganz anderes, ein verlangsamendes Spiel mit der Zeit, mit einem Rhythmus, der nicht nur Wiederholbarkeit meint, sondern auch Sprung und Wechsel. Dieses Atmen, das Pneuma der Formen von Innen her, hat auch in Europa eine lange Motivgeschichte. Die dem Betrachter sich darbietende Materialität der Gummiskulpturen läßt nicht nur an Luft, sondern auch an ein anderes Element und weitere zugeordnete Motive denken: an Magma, Lava, an die Vorgänge der Verflüssigung und der Erstarrung, der Explosion und der Zerstörung, der Vernichtung und der Fruchtbarkeit. Zwischen Leben und Tod eingespannt, ist der Vulkanismus eine heimliche und abgründige Sehnsucht des 18. und 19. Jahrhunderts gewesen. In vielen romantischen Naturphilosophen taucht das Verhältnis von Feuer und Luft als das bestimmende Geschehen einer Natur auf, die entschieden auf den frühneuzeitlichen Wahn verzichtet, der Mensch sei das wertvollste, was es im Kosmos gibt. Eine Haltung, die sich nicht zufällig der ethischen Lehre einer dezentrierten, nicht vom Menschen her denkbaren, antiken Welt nähert, die ja früh von heute als äußerst modern sich erweisenden Verwandlungen der Elemente, von turbulenten Mischungen, von einem selbst im Festen sich stetig bewegenden Umformungsprozeß ausgegangen ist. Das Vergängliche mischt sich mit dem Unvergänglichen, das Feste mit dem Fließenden, das Stabile mit dem Instabilen.

Genau so erweitert Stricker die skulpturale Form zur plastischen Gestalt und gibt ihr eine neue Form. Damit zeigt er, was im Bereich der Skulptur an formalen Neuerungen möglich ist, wenn man den Bann des traditionell Unvergänglichen, des Echten, Substantiellen verläßt, in dessen Reich sich der Mensch, gipfelnd in der Ästhetik Hegels, zur einzigen Figur des Geistigen erheben wollte, gespiegelt in der idealen Schönheit der unverrückbaren, klassischen, in dauerhaften Stein gemeißelten Gestalt. Thomas Strickers skulpturale Formen haben zwar auch mit dem Dauerhaften zu tun, aber nur als mit dem einen Moment neben anderen und gewiß nicht dem exklusiven. Er bezieht viel stärker den Umraum als Handlungsraum, als Architektur und als Zeit ein.

Eine Schnittstelle zwischen Architektur und Zeit ist das Reisen, das immer zugleich imaginär und real ist. Aufschub, Verschiebung, Intensivierung – man bewegt sich im Neuen, indem man sich von sich selber wegbewegt. Das zwingt zu Fragen. Thomas Stricker hat diese Fragen ins Zentrum der Ausstellung und auch in diesem Katalog herausgestellt, Fragen, die sich aus der Hinbewegung zum verborgenen, noch unbekannten, in Fluß befindlichen Zentrum, die sich auch aus der Wegbewegung aus dem bisher Gewohnten ergeben. Fragen läßt sich, wie schon erwähnt, nur, wenn – ahnungsvoll oder schon zuversichtlich – das Reich der Antworten verlassen wird, wenn man die Tür zu diesen artifiziellen Paradiesen des Trügerischen und Fälschenden sicher verschlossen weiß. Fragen und Reisen ist wie Atmen unter der Membrane der Zeit. Die Parallelität der Werkkategorien, die für „Geophonie“ und die Entwicklung der „108 Fragen an die Nomadin mit dem Gewehr“ als Reise in die Mongolei zutreffen, markieren die Einheit der skulpturalen Form als Plastizität von Zeit in Strickers bisherigem Werk. Das hat nichts mit der Konstanz von Motiven zu tun, sondern mit der Erfahrung, daß Konturen sich ergeben als Bestimmungen, als eine Art der Grenzsetzung, durch welche die Freiheit des Eigenen als Verpflichtung auf seine Ausarbeitung hin verstanden werden muß: Eine Auffassung des Lebendigen, dem die Bildhauer schon immer näher gestanden haben als andere Künstler.