Der in Düsseldorf lebende und arbeitende Künstler Thomas Stricker ist im Jahr 2005 mit seinem Vorschlag für die Realisierung eines Projektes mit dem Titel „Kleine Welten“ aus einem beschränkten Wettbewerb unter fünf vom Kulturamt der Stadt Düsseldorf eingeladenen Künstlerinnen und Künstler als Sieger hervorgegangen. Auslober des Projektes war der Caritas Verband Düsseldorf e.V. Das Ziel des Projektes war die künstlerische Gestaltung eines Caritas-Platzes in Düsseldorf. Das für das Projekt vorgesehene Grundstück liegt südlich des Apolloplatzes und wird begrenzt durch die Rheinkniebrücke im Nordosten, die Hubertusstraße im Südwesten, die Rheinuferpromenade im Nordwesten und die Neusser Straße im Südosten. Eine rundförmige Fußgängerrampe verbindet die Rheinkniebrücke mit dem Grundstück. Außerdem zerteilt eine Zufahrtsstraße die zur Verfügung stehende Fläche.
Das Konzept von Thomas Stricker sieht vor, den genannten Ort mit insgesamt 60 Apfelbäumen aus 24 Apfelsorten zu bepflanzen. Es handelt sich dabei um heimische Sorten, die in der industriellen Obstbaukultur keine nennenswerte Rolle mehr spielen. Diese Hochstämme werden auf dem insgesamt 3500 qm großen Grundstück auf eine anzulegende vielfältige Blumenwiese gesetzt.
Mit seiner Arbeit bezieht sich Thomas Stricker sowohl auf den konkreten Ort als auch auf die auslobende Institution. Der Ort ist trotz seiner prominenten Lage, in unmittelbarer Nachbarschaft des Rheinturms und des Landtags, ein ungestalteter Ort, der als zufälliges Nebenprodukt der unterschiedlichen infrastrukturellen Eingriffe der vergangenen Jahrzehnte entstanden ist. Trotz der Erschließung durch die Fußgängerrampe ist er daher als Durchgangsraum negativ definiert. Durch den künstlerischen Vorschlag von Thomas Stricker gewinnt der Platz eine eigene Identität und einen eigenständigen Charakter. Der Künstler bezeichnet die mangelnde städtebauliche Behandlung des Grundstücks als einen „Missstand“ und bezieht sich damit in positiver Weise auf den Caritas-Verband, der seine Identität unter anderem daraus bezieht, soziale Missstände nicht zu akzeptieren und an ihren Verbesserungen und im optimalen Fall sogar Behebungen interessiert zu sein.
Die Arbeit „Kleine Welten“ trägt den Untertitel „Skulpturale Frage 32/108“. Es ist das 32. von 108 möglichen Projekten, mit denen der Künstler skulpturale Fragen im öffentlichen Raum thematisiert. Der diesen Projekten zugrunde liegende Gattungsbegriff weist weit über den traditionellen Skulpturbegriff, der bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts die Diskussion bestimmt hat, hinaus. Neben den klassischen Fragen, wie sich eine Skulptur materiell und ästhetisch aufbaut, interessieren den Künstler vor allem die sozialen Implikationen der künstlerischen Arbeit. So hat Stricker z. B. im Rahmen der Ausstellung „Außendienst“ in Hamburg im Jahr 2000 auf den Alsterwiesen eine „Meteoritenwerkstatt“ errichtet. Über einen Zeitraum von mehreren Wochen entstand dort in einem öffentlichen Prozess eine unregelmäßige, blockhafte Form, die zuletzt mit Palladium vollständig überzogen wurde. Diese Arbeit setzte sich auf eine pointierte Weise mit der Frage des Ortsbezuges von Skulpturen im öffentlichen Raum auseinander. Das Konzept der Drop-Sculpture, das vorsieht, eine beliebige Skulptur an einem beliebigen öffentlichen Ort aufzustellen, wurde auf diese Weise konterkariert. Vor allem der von der Bevölkerung über die gesamte Dauer der Herstellung begleitete Entstehungs-prozess verankerte das skulpturale Handeln des Künstlers im öffentlichen Raum.
Im Jahr 2003 realisierte Stricker im Rahmen der Skulptur-Biennale Münsterland eine Arbeit mit dem Titel „Blüht es oder blüht es nicht?“. In einem umfangreichen Kommunikationsprozess überzeugte er vier im münsterländischen Stromberg ansässige Bauern, ihr Land zur Verfügung zu stellen, Raps einzusäen und ein übergreifendes Andreaskreuz mit einer Länge von 750 m und einer jeweiligen Schragenbreite von 125 m entstehen zu lassen. Er bezog sich mit diesem Projekt auf die Geschichte des so genannten Stromberger Kreuzes, das in der lokalen Tradition verehrt wird. Das Andreaskreuz aus Rapsblüten war schließlich im Jahr 2004 vom erhöhten Standpunkt der Kirche auf dem Burgberg von Stromberg bzw. aus der Vogelperspektive zu sehen. Stricker hat sein Projekt „Blüht es oder blüht es nicht?“, trotz des anfänglichen Widerstandes der beteiligten Bauern und mit Unterstützung der Landwirtschaftskammer und des örtlichen Pfarrers, realisieren können. Der Skulpturbegriff, den Stricker auf dieses Projekt anwendete, schloss die jeweilige konkrete räumliche Arbeit, also die Skulptur und das dreidimensionale Rapsfeld in Form eines Kreuzes ein und darüber hinaus den sozialen und kommunikativen Prozess, den man in der Kunstgeschichte als „soziale Skulptur“ bezeichnet.
In ähnlicher Weise wie die „Meteoritenwerkstatt“ und die Arbeit „Blüht es oder blüht es nicht?“ ist auch die Arbeit „Kleine Welten“ auf einen räumlich erfahrbaren und sozial komplexen Begriff von Skulptur bezogen. „Kleine Welten“ ist eine bildhauerische Arbeit, insofern durch einen aufbauenden Prozess ein vieldimensionales, aber räumlich geschlossenes Bild im Stadtraum entsteht. Zugleich ist „Kleine Welten“ eine soziale Skulptur, insofern sie verschiedene Interessensgruppen wie den Caritas-Verband, die Stadt Düsseldorf, die Anwohner, diejenigen Personen, die den öffentlichen Raum frequentieren, spätere Nutzer wie z. B. Obdachlose in den kommunikativen Prozess integriert. Bereits die Diskussion zwischen der Caritas, der Stadt, Landschaftsgärtnern, Pomologen und natürlich dem Künstler selbst ist Teil der Skulptur. Mit der Einladung von Thomas Stricker zum beschränkten Wettbewerb der Entscheidung, das ursprüngliche Konzept zu realisieren, der Einbeziehung von Gutachtern und Fachleuten und den vielfältigen Diskussionsprozessen ist die Skulptur „Kleine Welten“ bereits zu einem durchaus konstituierenden Teil realisiert. Der Caritas-Verband hat sich mit der Charakterisierung durch den Künstler in hohem Maße identifiziert. Allerdings ist die Arbeit noch nicht abgeschlossen. Die Arbeit „Kleine Welten“ wird auch in Zukunft nicht vollständig abgeschlossen sein, weil sich das skulpturale Konzept erst durch eine dauernde Nutzung und Integration des Grundstücks in die Umwelt erfüllen kann.
Während der Prüfung der Realisierbarkeit des künstlerischen Konzeptes hat sich herausgestellt, dass im Gegensatz zu den ursprünglichen Planungen, zusätzlich Bodenverbesserungsmaßnahmen für die Bepflanzung durch die Apfelbäume notwendig sind. Der Künstler ist derjenige, der das Konzept entwickelt und den Entstehungsprozess moderiert. Aus kunsthistorischer Sicht ist „Kleine Welten“ auch dann eine Skulptur, wenn es nicht zur Fertigstellung der Streuobstwiese kommt. Teil der Skulptur wäre dann das Scheitern der Verantwortlichen an strukturellen und finanziellen Problemen. Andererseits ist Thomas Stricker kein Konzeptkünstler im Sinne der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, bei dem allein die Idee und nicht die Durchführung der Idee zählt. Insofern wäre es ausgesprochen wünschenswert, wenn die Arbeit „Kleine Welten“, die ein äußerst qualitätvoller Beitrag zur Diskussion des Skulpturbegriffes im öffentlichen Raum darstellt, auch tatsächlich mit vereinten Kräften realisiert wird.
Dr. Markus Heinzelmann, Museum Morsbroich, November 2007