Wanderungen - Verstreuungen - Konzentration

Annelie Pohlen, 1995

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Die erste Begegnung schon legte die Vielpoligkeit zwischen Anziehung und Abweisung offen, welche das Werk von Thomas Stricker anreichert. Es ist die nicht harmonisierbare Empfindung von der Diskrepanz zwischen körperlicher und rationaler Wahrnehmung, jener Zustand, bei dem das Auge auffordert zur Hinwendung und der Kopf sich abwendet vom Bedürfnis des Berührens.

Die Wahrnehmung / Beschreibung eines emotional-intuitiven und eines technisch-rationalen Parts in der Begegnung mit dem Werk ist die Schnittstelle, von der aus das Beschreiben von Empfindungen und Strukturen überführt zum komplexen Feld von Verknüpfungen, Möglichkeiten, Fragen, welche sich in Strickers jüngster Arbeit verdichten. Zwei Blöcke aufeinandergeschichteter Platten aus Paraffin-Wachs und ein Feld ausgebreiteter Platten gleichen Materials, gleicher Form, gleicher Zahl. Auf dem ausgebreiteten Feld sind Texte in Blindenschrift sichtbar.

Im minimalistischen Streben nach Reduktion der Form bis zur äußersten Klarheit und Logik findet Stricker nun einen „Behälter“ für jene Vorstellung, in der Kunst, Wirklichkeit, Leben verschmelzen zu einem Prozeß von Gestaltung und Wahrnehmung, welchem das produzierende und das wahrnehmende Subjekt, Künstler und Betrachter gleichermaßen teilnehmen. Die Vorstellung von der Polarität als Grundessenz in allem und von Wahrnehmung als Polarität der Begegnung – zuletzt mit dem Selbst – ist das Fundament der Auseinandersetzung. Das Bild für diese Vorstellung verdichtet sich in der Vorstellung vom Nomaden. Es waren die Nomaden in der äußeren Mongolei, die er aufsuchte, um seinen eigenen Standort zu klären, was doch nichts anderes bedeuten kann, als nach langem Weg durch den anderen Raum zur Verdeutlichung des eigenen zu gelangen und darin die andere Form von Nicht-Seßhaftigkeit, Bewegung, vom Dasein und Verschwinden, vom Verschwinden des Daseins zu finden. Die Begegnung mit dem anderen konfrontiert das Eigene mit der Erinnerung an gesellschaftliche Strukturen und deren Verlust und führt zugleich das Ich zur Wahrnehmung des Fremden im eigenen als einem nicht auflösbaren Zustand der ständigen Bewegung.

Dafür findet Stricker die Form, deren wahrnehmbarer Minimalismus mit dem poetischen Mehrwert der vagabundierenden intuitiven Bilder in dem Maße korreliert, wie die Architektur der geschichteten mit dem freien Feld der ausgebreiteten Platten auf dem Boden. Die Maße sind fest, die Form ist fest, abgemessen nach dem für den Bildhauer intuitiven Empfinden für Maße, Volumen im Raum und der einmal getroffenen Entscheidung für eine Zahl von „Fragen“, die sich in Blindenschrift auf den Flächen einschreiben.

Die strenge Form bündelt im weichen Material wie in einem Kern die poetische Vorstellung von Existenz als Frage. Das vagabundierende Bild des Nomaden, des Künstlers auf der nicht endenden Suche nach Antworten als Nahrung für das Überleben, gewinnt in der festen Form aus weichem Material und der dort wahrnehmbaren Ansiedlung unlesbarer Worte die „Aura“ eine Ortes, von dem aus Vorstellungen über Existenz und Essenz sich verströmen, ohne Begriff zu werden.
Strickers Werk ist hier die einfachste Form und dort der Speicher des Unfesten, der vagabundierenden Vorstellungen vom Ich/Selbst, für die das Kunstwerk Auslöser, nicht Ergebnis ist. Die Form ist seßhaft, ihre Energie vagabundiert.